THE GODS TOLD ME TO RELAX
NEUSEELAND

KANADA

USA

Eine der schönsten Sachen am Backpacken ist, dass man die Welt des materiellen Überflusses nicht in einen Rucksack bekommt. All die Dinge, die man über die Jahre anhäuft, und in Schubladen und Kisten verschwinden lässt, weil man sonst nichts mit ihnen anzufangen weiß - diese Dinge sind einfach weg.


Sobald die bedrückende Last des Besitzes verschwunden ist, kann man wieder damit anfangen Dinge aus tiefer, grundloser Zuneigung zu lieben. In diesem Fall muss man dafür ins Jahr 1974 zurückgehen. Led Zeppelin nehmen gerade „Stairway to Heaven“ auf, Borussia Mönchengladbach ist eine europäische Spitzenmannschaft und – noch entscheidender – in einem 2000-Seelen-Örtchen im südlichen Britisch Columbia rollt ein nagelneues Wohnmobil vom Band.


Gekauft wird es von einem anständigen Pärchen im mittleren Alter. Wohnmobile sind gerade schwer im Kommen. Das Mantra der neuen nordamerikanischen Feriengestaltung lautet: „Take your home with you“. Zur Grundausstattung der Camper gehören jetzt serienmäßig Kühlschrank, Toilette mit Wasserspülung, Dusche und Thermostat. Das Pärchen bezahlt 14.000 kanadische Dollar (die heutzutage einem Gegenwert von rund 45.000 Euro entsprächen) für ihren persönlichen Campingtraum.


Doch weil das ein enormes Loch in die Familienkasse reißt, wird in den kommenden Jahren mehr geschuftet als verreißt. Der Campingtraum wird zum Garagenblocker. Irgendwann entscheidet das Pärchen sich schweren Herzens ein „For Sale“-Schild hinter die Frontscheibe zu hängen. Nach fast drei Jahrzehnten wechselt das Wohnmobil das erste Mal die Besitzer. Die neuen Eigentümer geben ihm einen Frauennamen. Sie nennen es „Mathilda“.


Ich erinnre mich noch genau an unsere erste Begegnung. Wir waren aufgeregt und ein bisschen nervös, weil dieses orange-gelb-gestreifte Ungetüm, unter all den zwanzig, uralten und riesengroßen Wohnmobilen, die wir im Großraum Vancouver rausgesucht hatten, unser heimlicher Favorit war. Der Anzeigentext las sich fantastisch. Nur eine Zahl irritierte: Baujahr 1974. Sollte ein Wohnmobil wirklich älter werden als ein durchschnittlicher Mann südlich der Sahara?

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Kommentare

12/02/2014

Die ersten Schritte durch den Innenraum sind ein Schock. Mathilda ist eine groteske Siebzigerjahre-Orgie. Man kann sich nur schwerlich vorstellen, dass dieser Look wirklich mal angesagt war. Ganz ohne Retrolabel und ironisches Augenklimpern. Einfach nur zeitgenössisches Design. Braun ist überall. Unverwüstliches, licht- und lebenssaugendes Nussbraun. Ein Ton, irgendwo zwischen Nutella und der Königin der nussigen Bedrückung, der Kokosnuss. Dazu ist alles holzvertäfelt. Wäre die Sixtinische Kapelle 1974 errichtet worden, sie wäre pekanussbraun und von einem Michelangelo auf LSD und Plateausohlen höchstpersönlich plastikholzvertäfelt worden.


Einen verschwindenden Kontrast bilden Teppiche, Polster und Tischplatten in verschiedenen tote-Maus-Grautönen. Die Polster sind mit einem Streifen blassem Magenta überzogen. Kein Telekom-Magenta, sondern eher eine Farbe, wie sie sich jemand auswählt, der eine neue, männlichkeitsherausfordernde Hemdfarbe sucht, jedoch nicht gleich sämtliche Blicke der Arbeitskollegen auf sich ziehen will. Zusammen erinnert die Grau-Magenta-Kombination an eine tückische Blutkrankheit im finalen Stadium.

In ganz und gar schrecklichem dunkellila waren auch die Scheiben beklebt.  Wieso kann man nur spekulieren. Die wahrscheinlichste These: Vampire haben die Folie angebracht um auch im Urlaub möglichen Verbrennungen durch Sonneneinstrahlung  vorzubeugen und die künstliche Nacht zu erhalten.

Der Clou daran: Da alles in seiner singulären Scheußlichkeit und unverwechselbaren Epochenzugehörigkeit zusammenpasst, ergibt sich ein Gesamtbild, dass zwar keine Vintage-Preise abräumt, in seiner Außerirdischkeit aber sofort die in uns verankerte Retro-Seligkeit  anspringen lässt – und damit auf einer ganz scharfen Linie zwischen artsy und traditionell balanciert, vergleichbar mit Strickjacken und strengen Ponys – die starke Gefühle selbst in Menschen, die den Großteil ihres Lebens im 21. Jahrhundert verbracht haben, zu wecken vermögen (und wir reden hier nur über die unpolierte Ausgangslage, die wir vorfanden).


Die letzten Monate nutzten wir schließlich um in filigraner Kleinarbeit das Projekt: „Schöner Wohnen auf Rädern“ zu vollenden. Es wurde ausgiebig gestrichen, ausgiebig gehämmert und am ausgiebigsten über die richtige Farbe gestritten. Große Areale Nussbraun wichen letztlich strahlendem Löwenzahn-Dotter und dem schillernden Türkis der Navajo-Indianer. Judith schneiderte vormittags Beutelschränke und Sitzbezüge und ertüftelte abends ein neues LED-Licht- und Garderoben-Konzept. Die Mikrowelle musste aus Platzgründen weichen, dafür haben wir jetzt ein Vogelhäuschen.


Um es abzukürzen: Wir haben geschafft, was sonst nur Robert Rodriguez mit den Siebzigern vermag. Die Bräsigkeit ist spaciger Coolness gewichen. Mathilda ist extraterrestrisch. Die Zuneigung zu ihr ist noch tiefer und grundloser geworden. Der Bund ist so stark, dass wir überlegen, sie vielleicht gar nicht mehr zu verkaufen.

Und so sah es in seinem Urzustand aus:

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