THE GODS TOLD ME TO RELAX
NEUSEELAND

KANADA

USA

Ein Supervisor für Well Testing verdient mindestens 150.000 Dollar pro Jahr. Das ist das vierfache Einkommen eines Durchschnittskanadiers, doch reichen muss es deshalb noch lange nicht. Ein Beispiel: Auf einer elendig langen Autofahrt, quer durch die nördlichen Rocky Mountains, fragt mich mein Vorgesetzter, ob ich ihm 20 Dollar leihen könne. Wir sind auf dem Weg zu einem Job. Wofür er das Geld braucht, sagt er nicht.


Als wir ein paar Minuten später an einer Tankstelle halten, weiß ich noch vom dem, was er mir in den nächsten Tagen erzählen wird. Ich weiß nichts von seinen sechs Kindern, seinen vier Ex-Ehefrauen, seinen drei Hypotheken, den Rechnungsmyriaden, die sein Leben überwuchert haben und seinen Kontostand einstellig halten – und ich weiß auch nichts von seinem schwerwiegendsten Problem. Von den 20 Dollars wird er Bier kaufen. Zwölf Stück. Neun davon wird er in den nächsten drei Stunden trinken und anschließend die leeren Büchsen aus dem Fenster werfen. Während unserer Fahrt zur Arbeit. Willkommen in der Ölindustrie.


In den 116 Tage, die ich dort arbeitete, habe ich mehr zerstörte Existenzen gesehen, als in allen „Breaking Bad“-Staffeln. Menschen, die als Siebtklässler genug vom Bildungssystem hatten. Menschen, die von ihren Vätern gezwungen wurden, mit Crack zu dealen. Menschen, die Kojoten abknallen als Freizeitbeschäftigung betrachten.


Acht Tage später ist unser gemeinsamer Job beendet. Wir fahren zurück durch die Rocky Mountains. Dunkelheit liegt noch über den kanadischen Wäldern. Es ist kurz nach Fünf, ein Wolf heult und mein Vorgesetzter schüttet sich periodisch Apfelsaft in jede seiner Pepsi-Dosen. Er dauert ein bisschen, bis der Morgen und noch länger bis mir dämmert, dass dieser Apfelsaft mindestens drei Jahre in einem Holzfass gereift ist.


Und jener Vorgesetzte war keine Ausnahme. Praktisch jeder zweite Angestellte mit Führungsaufgaben in meiner Firma kann keinen Drogentest bestehen. Man gibt das auch ehrlich beim Vorstellungsgespräch zu. Narkotische Probleme sind kein Hindernis in der Ölindustrie. Man braucht auch keinen Schulabschluss und kann schlimmste Vorstrafen haben. Ich würde davon ausgehen, dass man sogar seinen Schwiegervater auf dem Gewissen haben kann und trotzdem einen Job in der Ölindustrie bekommt.


Alles was man braucht sind ein paar Muskeln, eine Fortbildung in Erster Hilfe und ein sogenanntes H2S-Zertifikat, bei dessen Erwerb man lernt, dass Schwefelwasserstoff das Arbeits- und sonstige Leben unter Umständen vorzeitig beenden kann. Praktisch gesprochen kann also jeder - der den Geruch fauler Eier ertragen kann und bereit ist, drei seiner Tage (und 400 Dollar-Kursgebühren) zu opfern -  innerhalb von zwei Jahren sechsstellige Gehälter verdienen.


Die Arbeit ist auch nicht der Haken an der Sache. Klar - man schuftet zwölf bis vierzehn Stunden-Schichten, sieben Tage die Woche, manchmal vier Wochen am Stück und im grässlichsten Fall bei -45 Grad und Schneestürmen – was bedeutet, dass nur zwei Stunden des Tages zum Duschen, Essen, Lesen bleiben. Doch die eigentlichen Schichten sind meistens in Ordnung.


Hauptsächlich schultert man Eisenrohre durch die Landschaft und hämmert sie zu Pipelines zusammen und wieder auseinander. Man beobachtet Flüssigkeiten und Gase hinter Glasscheiben, nimmt Testproben und analysiert diese anschließend. Manchmal wird man mit Methanol und Diesel überkippt, in Schlamm gebadet, angeschrien und taub in den Fingerspitzen. Manchmal guckt man aber auch drei Wochen am Stück Filme, weil nichts Anderes zu tun ist. Alles in allem ist es aushaltbar. Was wirklich gruselig ist, sind die Kollegen.

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19/04/2014

Wenn ich mich nicht verzählt habe, waren Drei von Vieren vorbestraft. Häusliche Gewalt, Kneipenschlägereien, Drogenhandel. Kleine, kaputte Gangsterleben. Manche pendeln jährlich von der Ölindustrie in die Vollzugsanstalt und zurück. Handgemenge am Arbeitsplatz sind keine Seltenheit, auch Messerstechereien lockern manchmal den Alltag auf.


So erzählte mir bei einem anderen Job mein Supervisor die Geschichte von „Stabby Dan“ – dem erdolchenden Dan. Frisch aus dem Knast und mit einigen unschönen Erinnerungen entlassen, erledigte eben jener Dan sein Tagwerk in der Ölindustrie nur noch mit ausgezogener 30-Zentimeter-Klinge. Natürlich sollte es nicht lange dauern, bis er sein Schlachterutensil in einer Meinungsverschiedenheit als schneidendes Argument einsetzte und damit auf die Kollegen losging.


Nun stellt euch meinen Gesichtsausdruck vor, als beim nächsten Job beiläufig der Spitzname „Stabby Dan“ fiel, als über den Typen geredet wurde, der mir seit zehn Tagen in einem vielleicht sechs Quadratmeter großem Test-Tank Gesellschaft leistete. Dabei war „Daniel“, wie das Namensschild auf seinem Overall ihn auswies und worunter ich ihn kennenlernte, eigentlich kein schlechter Kerl. Sieht man mal davon ab, dass er sämtliche Ausländer aus Kanada verweisen wollte (bis auf ein paar ausgewählte Weiße, wie er mir liebevoll versicherte).


Sein Messer hatte er allerdings irgendwo verloren, ebenso wie seinen rechten Schneidezahn. Dafür erzählte er mir eines Abends seine Lebensgeschichte. Unter – und ich dramatisiere hier keineswegs für den Effekt – rollenden Tränen berichtete er von seinem Vater, angeblich ein führender Hells Angel, der ihn jahrelang Crack dealen ließ, bis er völlig verwahrlost im Knast landete. Rockerbanden-Vati sah das wohl als unentschuldbare Beeinträchtigung der Geschäftsbeziehung und sprach bis heute nie wieder ein Wort mit dem Sohnemann. Doch auch ohne ein männliches Vorbild entwickelte sich Stabby Dan. Gerade erwartet er den dritten Sohn von der dritten Freundin. Er fragte mich, was ich von Owen halte, als Vorname. Crack nimmt er nur noch im Sommer, wenn die Arbeit vorrübergehend aussetzt.


Doch nicht immer wurde ich so warm und herzlich willkommen geheißen. So fabulierte ein anderer Supervisor eines Tages darüber, wie sehr er die Auslöschung schwarzer und indianischer Minderheiten begrüßen würde – oder zumindest eine Umorientierung in ein Reservat nahe dem Polarkreis. Schnell brachte uns das in der anschließenden Diskussion zu der delikaten Frage, warum bei allen reinblütigen Göttern, eigentlich ein Ostdeutscher den Kanadiern die Arbeitsplätze wegnehme dürfte. Meine detaillierten Ausführungen über die Arbeitslosenrate (4.9 % in Alberta - die zweitniedrigste in ganz Kanada) und den Arbeiterbedarf (über 100.000 Arbeiter in den nächsten zehn Jahren) konnten ihn nur schwerlich umstimmen. Ich will mir gar nicht ausmalen, was gewesen wäre, wenn ich einen afrikanischen, arabischen oder indischen Background hätte oder noch schlimmer: wenn ich schwul gewesen wäre. Schließlich war es schon verheerend genug, dass ich kein Fleisch esse.


„Where do you get your protein from?“ – frei übersetzt: Warum stirbst du nicht ohne Cheeseburger? ist praktisch die Standartfrage, wenn ich das erste Mal Fleischbrötchen oder Steak ablehne. Für manche war ich tatsächlich der erste Vegetarier in einem Leben aus Karibu-Hotdogs und Schlachthaus-Verkostungen. Ein merkwürdiges, sojakäseessendes Unikum. Nach einem kompletten Winter hier lässt sich fürs Protokoll festhalten, dass Vegetarismus im ländlichen Kanada einen Abenteuerübermut voraussetzt, der dem spanischer Priester bei der Maya-Missionierung in nichts nachsteht.


Aber was soll man machen? Die Welt ist klein in Alberta. Neun von zehn kanadischen Ölarbeitern haben keinen Reisepass und noch nie ihr Land verlassen. Selbst die Nachbarprovinz Saskatchewan ist für die meisten ein Mysterium. Ich wurde gefragt, ob Deutschland ein demokratisches Land sei und erfuhr, dass AIDS sodomitischen Afrikanern zu verdanken ist. In Europa war exakt einer meiner Kollegen.


Die meisten konnten auch nicht verstehen, warum wir hier nicht bleiben wollen. Unser geplanter Trip an die Ostküste? Da gebe es doch keine Arbeit, sagen sie. Besser kann man die Mentalität des kleinstädtischen, westlichen Kanadas nicht auf den Punkt bringen, die sich hinter all den Lunchgesprächen über Pick-Up-Zylindergrößen, Escort-Damen-Neuzugänge („The new russian is perfect“) und der richtigen Kalibergröße für das erste Gewehr der 13-jährigen Tochter verbirgt. Aber hey, was soll man auch sonst sagen bei der Bezahlung?

Sagen wir Shell will in Alberta Öl und Gas fördern. Dann lassen sie eine Firma dafür ein rund 4000 Meter tiefes Loch in die Erde bohren und mit Zement ausgießen. Anschließend beauftragen sie eine zweite Firma damit, hunderttausende Liter Wasser und Chemikalien in das Bohrloch zu pressen, um Risse in den Gas- und Öl-Gesteinsformationen zu erzeugen – bekannt auch in Deutschland unter der Bezeichnung „Fracking“. Anschließend wird das ganze Wasser wieder an die Oberfläche gespült (und mit dem Wasser auch das nun freigelegte Öl und Gas) und dafür sind Well Tester verantwortlich. Wir „flowen“ das Bohrloch und analysieren dabei gleichzeitig, wie viel Wasser, Sand, Öl und Gas nach oben kommt. Das geht so ein paar Wochen, bis der Großteil des Sandes und Wassers herausgefiltert sind, ehe das Bohrloch an eine Pipeline angeschlossen werden kann.

Was zur Hölle ist eigentlich Well Testing?

Das ist Well Testing!

Test-Tanks mit Flare-Turm

Frac-Wasser-Tanks

verlegte Eisenrohre im Flare-Nebel

Flare-Nebel am Nachthimmel

Safety-Meeting um Bohrloch

Test-Tank innen

Schmelzender Schnee unter Flare-Turm

Mobiler Bohrturm, rechts Test-Tank

Flares